Mal anders sein

Ich fand es schon beim lesen der c’t 03/2005 so geil:

Mal anders sein

Dienstag Abend, 21.01 Uhr: Eine unbedarft in den Heise-Ticker eingestellte Meldung über neue Apple-Produkte tritt im News-Forum eine Lawine los. Leser W. erntet innerhalb von Minuten sage und schreibe 67 beipflichtende Antworten auf sein Posting, dass es einen „Prima Office PC“ auch schon für unter 500 Euro gibt, und der hat doppelt so viele Gigahertz wie der iMac mini. Mindestens.

21.06 Uhr: Stimmt, überlege ich. Der Minimac sieht eher so aus, als könne man nur einen Erlenmeyer-Kolben draufstellen, um eine anionische Pufferlösung auf konstant 43,5 °C zu halten. Obwohl – hat irgendwie was, das kleine Stövchen.

21.13 Uhr: Ich entnehme dem Tenor vehementer x86-Verfechter, dass Apple-User entweder schwul, dumm oder weiblich sind. Echte Männer würden doch niemals auf die Idee kommen, ihre Rechner und Gadgets dem Aussehen nach zu kaufen. Die Design-Erörterung nimmt wenig später eine überraschende Wende, als das Thema „Case-Modding“ zur Sprache kommt, unstreitig eine Domäne von männlichen Heterosexuellen.

21.25 Uhr: Vier weitere Seiten mit Threads, nicht wenige als klassisches Apple-Bashing gezielt am Thema vorbei. Ein erster Lichtblick: Diskussionsteilnehmer G. bemerkt, dass viele Menschen offenbar den Sinn für schöne und gebrauchswertige Dinge verloren haben, zugunsten einer tumben Schnäppchen-Mentalität. Sein iPod sei zwar 50 Euro teurer gewesen als der MP3-Player vom Kaffeeröster, dafür könne er aber jedes einzelne seiner 5000 Musikstücke mit drei Klicks auf der iPod’schen Kreismaus finden. Und außerdem ribbelt der iPod in der Hosentasche keine Fäden auf.

21.28 Uhr: G. ist nicht allein, weitere iPod-Nutzer schließen sich ihm an. Dem Killerargument, dass der iPod ja gar keine Ogg-Vorbis-Dateien abspielen könne, haben aber auch sie schließlich nichts mehr entgegenzusetzen. Ein iPod-Hater verfasst abschließend einen faktenlosen Beitrag, der lediglich sein Wissen um die Transluzenz eiweißhaltiger Körperflüssigkeiten erahnen lässt.

21.45 Uhr: Gebannt folge ich immer noch dem virtuellen Schlachtgetümmel, obwohl sich die Krimi-Wiederholung auf dem Dritten dem Showdown nähert. Erstaunlicherweise befehligen die Helden in neuzeitlichen amerikanischen Spielfilmen immer Macs, während die Tunichtgute selten über Windows 98 hinauskommen. Muss wohl was dran sein.

21.50 Uhr: Die Chipstüte ist fast leergefuttert – ein zweifelhafter Beitrag für den Redakteursbauch. Im News-Forum werden stattdessen Popcorn und Fische gereicht, eine rituelle Handlung inmitten von trolligen Grundsatzdiskussionen.

21.52 Uhr: Poster S. greift die Debatte um die iMac-Gehäusefrage ironisch auf. Ein echtes PC-Gehäuse müsse aussehen wie ein Schweizer Käse, mit Slots für elf Sorten Flash-Speicherkarten, Diskettenlaufwerk und allerlei Buchsen, damit man überall was reinstecken kann. Ich gucke unter meinen Schreibtisch. Ein brummender Emmentaler ohne Haube.

22.01 Uhr: Es bewahrheitet sich die alte Literaten-Weisheit, dass die Hälfte aller Leser keine Ironie versteht. Die Fronten verhärten sich, und bevor der kontrovers diskutierte Thread in unpassende Vergleiche mit Ereignissen aus der deutschen Geschichte mündet, will ich meinen PC lieber ausschalten. Der aber mahnt ein überfälliges Antivirus-Update an.

23.15 Uhr: System- und Spyware-Check abgeschlossen. Genug Zeit gehabt, über das Anderssein zu reflektieren: Kann mich partout nicht erinnern, in den letzten drei Jahren jemals etwas über Mac-Viren oder -Dialer gelesen zu haben. Ob ich mir nicht einfach einen iMac mini ins Wohnzimmer stelle? Der sieht besser aus als meine dehydrierte Tischpalme, braucht weniger Platz, und gießen muss man ihn auch nicht. Ich liebe pflegeleichte, genügsame Dinge mit dediziertem Verwendungszweck.

Mittwoch, 17.15 Uhr: Habe mir das Gerät genauer angesehen. Macht großen Spaß, anders zu sein. Mit dem Quader-Design habe ich mich mittlerweile arrangiert, und ich werde auch keinen Erlenmeyer-Kolben zum Draufstellen erwerben, nur weil mich ein simpel strukturierter Besuch sonst für schwul, dumm oder weiblich halten würde. Und vielleicht wage ich mich sogar mal mit Julchens iPod an die Öffentlichkeit. Wenn sie ihn mir mal leiht.

Carsten Meyer (c’t, Heise-Verlag)

Aus: de.comp.sys.mac.misc

Comments are closed.